Ein alter Lehrer

Mein alter Lehrer ist tot. Ja und? fragt mich Alexander, der mich auf mein Fehlen gestern angesprochen hat. Fehlte noch, daß er „Na und?" gefragt hätte. „Ich war auf der Beerdigung" erläuterte ich mein Fehlen und erzählte von ihm. Meinem alten Lehrer. Die deutsche Schule? Wir hacken auf ihr herum oder nörgeln zumindest, wenn wir in ihr sind und die meisten hacken weiter, wenn wir sie hinter uns haben. Gemeinsam mit unseren Kids, die - zugegeben - in einer heutigen Großstadtnormalschule zusammen mit ihren Lehrern das Gegenteil von dem vorfinden, was Schulwesen z.B. in unserer Provinz mit deren Überschaubarkeit und möglicher Kreativität noch erlaubt. Es gibt immer aber auch Lehrer und Lehrerinnen, die mit ihrer Person eine andere Erinnerung schaffen als nur an das lernrigide, anonyme, wert-arme Schulungswesen. Meiner machte mir ,,Schule" teilweise sogar - liebenswert. Weil er es war. Siegfried hieß er mit Vornamen, legte Wert darauf, daß er ,,Altphilologe" sei, unterrichtete uns also in Latein, Griechisch und Geschichte. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir einen Spitznamen für ihn hatten - eigentlich ein Zeichen für Beliebtheit von Lehrern, Ausbildern und Chefs aller Art. Er war immer Herr Doktor, bis in die 80er Jahre, in die er unterrichtete. Er war klein, zierlich, leise - und beherrschte uns durch seine Feinheit -. Und durch seinen messerscharfen Witz, der sich in Selbstironie und nicht in Ironie äußerte, welche bekanntlich immer auf Kosten anderer geht. Wer von uns nicht aufgeklärt war (in den 60er konnte das passieren, heute nicht mehr, wo alle Eltern sich auf die Aufklärung am Kiosk, auf dem Schulhof und spätestens freitagabends auf RTL verlassen dürfen) - der wurde aufgeklärt, in dem wir Ovid lasen und nur genau hinhören mussten, wenn Herr Dr. E. Kommentare formulierte. Die sog. „toten Sprachen" erlebten wir äußerst lebendig und pikant. Er hatte auch offizielle Kommentare veröffentlicht, nach denen andere Schulen arbeiteten (er wollte eigentlich an die Hochschule, was der Krieg verhinderte). Diese fachliche Berühmtheit ergoss er aber nicht über uns. Er ergoss sich höchstens, wenn es um seine Töchter ging. Wenn er mit dem Stapel von Klassenarbeitsheften hereinkam, hatten wir durchaus manchmal Glück mit jemandem, den wir vorschickten und der unmittelbar vor dem Austeilen - unseren Doktor fragte: „Herr Doktor - wie geht es eigentlich (und hier nannten wir den Namen wahlweise einer seiner beiden Töchter)?" Dann legte er den Hefte-Stapel lächelnd, stolz, begeistert und verliebt beiseite und begann: Ja, also..." und hörte erst 5 Minuten später auf, nach denen es zu spät war, um eine große Arbeit zu schreiben. Viele von uns beschlossen damals, Töchtervater zu werden. Als jemand von uns, den er mochte, an den er glaubte, vor dem Abitur in Folge von Krankheit gehen musste - da lud er eben diesen am Nachmittag des letzten jämmerlichen, kläglchen Schultages zu sich nachhause ein. Zum Kaffee - mit weiterer Lebensplanung (ich war der Eingeladene und habe mich deshalb später öffentlich für diese Beratung meines Lehrers in einem Buch bedankt, das er nicht einmal seinen Töchtern, geschweige Kollegen zeigte). Gestern haben wir einen realen Lehrer beerdigt und uns gratuliert, daß wir mit ihm Einblick in die positiven Möglichkeiten der Schule nehmen durften, die diese auch hat. Sogar die deutsche Schule.

05. März 1996